Lehrer – Schüler

 

Die meisten Anfänger, die ins Dojo kommen, wollen etwas lernen und sind bereit, sich dafür anzustrengen. Sie versuchen, ihr Bestes zu geben. Wie bekannt ist, kann aber “gut gemeint” oft das Gegenteil von “gut gemacht” sein.

wrf_2047474cWenn Du in ein Dojo kommst, vergiss alles, was Du über Aikido weißt bzw. zu wissen glaubst. Vergiss auch, was Du von Karate oder Judo oder Tontauben schießen oder Schach spielen weißt. Versuch ohne Vorurteil, alles was Dir angeboten wird, wie ein Schwamm aufzusaugen. Vertrau Deinen Lehrern, auch wenn Du manche Dinge nicht verstehst oder sie Dir gar widersinnig erscheinen.

Das ist der Anfang: die Bereitschaft etwas anzunehmen und das Vertrauen in den Lehrer. Wenn Du Dich dazu nicht durchringen kannst, dann solltest Du das Dojo unverzüglich verlassen. Egal ob es am Lehrer liegt oder an Dir selbst, ohne Offenheit und Vertrauen hat es keinen Sinn, den Versuch zu unternehmen, gemeinsam zu arbeiten.

Das heißt keinesfalls, dass man die Handlungen des Lehrers nicht hinterfragen darf. Das heißt auch nicht, dass ein Lehrer als solcher fehlerfrei ist. Und es heißt ebenso nicht, dass alles, was der Lehrer tut, sakrosankt ist und in alle Ewigkeit als unveränderlich und richtig angesehen werden muss.

Es heißt, im Moment des Unterrichts darauf zu vertrauen, dass der Lehrer kraft seiner Erfahrung und seiner Kenntnisse weiß, was er den Schülern wie beibringt und warum er das und wann er das tut. Es ist notwendig, sich den Gedanken des Lehrers nicht zu verschließen, damit man die Möglichkeit erhält, zu verstehen, was er einem beibringen will.

Es heißt auch, dem Lehrer Raum zu geben für eigene Entwicklung und wenn nötig auch mit ihm gemeinsam Fehler zu machen, mit ihm gemeinsam nach Lösungen zu suchen und dann ebenfalls gemeinsam mit ihm davon zu profitieren.

Im japanischen Budo ist die traditionelle Beziehung zwischen Lehrer und Schüler enger als jede andere Beziehung. Ähnliches ist im heutigen Europa kaum möglich. Ohne Ausnahmen für unmöglich zu halten, ist es bei uns eher so, dass es weder Schüler noch Lehrer gibt, die dazu im Stande wären, eine solche Beziehung zu leben. Wir leben in einer anderen Zeit und in einem anderen Kulturkreis.

Die Schüler ermöglichen es dem Lehrer, Fortschritte zu machen. Der Lehrer ist die Verbindung der Schüler zu ihrer Kunst. Beide müssen gemeinsam vorankommen. Jeder hat die ihm eigenen, unterschiedlichen Aufgaben zu erfüllen, damit der Unterricht für alle nutzbringend sein kann.

Den Mitgliedsbeitrag zu bezahlen bedeutet noch lange nicht, ein Schüler zu sein. Es bedeutet auch nicht, einen Anspruch auf persönliche Betreuung durch den Lehrer erworben zu haben. Es ist lediglich ein Beitrag, der hilft, die Betriebskosten des Dojos abzudecken und der einem damit die Teilnahme am gemeinsamen Training erlaubt.

Eine enge persönliche Beziehung zwischen Trainern und Schülern kann sich im Laufe der Zeit ergeben, aber sie muss es nicht. Der Schüler sieht sich einem Lehrer gegenüber, aber der Lehrer einer Vielzahl von Schülern. Und nicht jeder Lehrer passt zu jedem Schüler – und umgekehrt.

Ein Schüler hat auch die Verantwortung gegenüber sich selbst, mit offenen Augen und wachem Verstand wahrzunehmen, ob und wann der Zeitpunkt gekommen ist, nicht mehr gemeinsam weiterzuarbeiten. Welche Gründe für die Entscheidung ausschlaggebend sind, spielt letzlich keine Rolle, der Schüler sollte sie selbst hinterfragen und auch mit dem Lehrer besprechen. Ergibt sich keine neue Bewertung, sollte man den Lehrer und/oder das Dojo verlassen. Beide Seiten haben das vorbehaltlos zu akzeptieren.

Ein Aikido-Dojo ist, was den Unterricht betrifft, nicht demokratisch. Nicht die Mehrheit bestimmt die Richtung, sondern diejenigen, die über mehr Erfahrung und Wissen verfügen und bereit sind, die Verantwortung für das weitere Bestehen des Dojos und die Weitergabe der Kunst des Aikido zu übernehmen.

Was Schüler und Lehrer meist voneinander unterscheidet, ist die Geisteshaltung mit der sie zum Training gehen und mit der sie dem Aikido insgesamt gegenüber stehen. Dabei spielt es schlussendlich im Einzelfall keine Rolle, ob jemand tatsächlich unterrichtet oder nicht.

Der Lehrer identifiziert sich voll und ganz mit dem Dojo. Er übernimmt die Verantwortung dafür und für die Weiterentwicklung seiner Schüler. Er muss das tun, denn seine Handlungen oder Unterlassungen haben direkte Auswirkungen (positive und negative) auf seine Schüler. Manchmal ist das sofort zu erkennen, manchmal dauert es seine Zeit.

Der Lehrer kann sich nicht in der zweiten Reihe verstecken oder jemand anderem die Schuld für sein Tun oder Nichttun in die Schuhe schieben. Er ist exponiert und allen Reaktionen der Schüler vorerst ungeschützt ausgesetzt. Er kann nicht zu Hause bleiben, wenn er keine Lust hat und er weiss, dass wenn er nicht arbeitet und sich weiter entwickelt, auch andere nicht arbeiten und sich weiter entwickeln.

Er muss für seinen eigenen Fortschritt eine Geisteshaltung entwickeln, die ihn danach streben lässt, seinen Aikido-Unterricht so aufzubauen, dass wenn niemand anderer auf der Welt da wäre, um Aikido zu unterrichten, er doch in der Lage wäre, alles Wesentliche seinen Schülem so zu vermitteln, dass die Kunst des Aikido nicht verloren geht.

Diese Einstellung zum Aikido und zum Leben ist es, die ihn von seinen Schülern unterscheidet, nicht die technische Brillianz oder die Anzahl der Jahre, die er übt.

Es ist keine positive oder negative Wertung, wenn man Schüler und Lehrer einander gegenüberstellt, es ist lediglich eine Beschreibung von Unterschieden zwischen den beiden.

Nach einigen Jahren der Übung kann man sehen und verstehen, was vorher gänzlich außerhalb des eigenen Denkens gelegen ist. Auch jenseits jedweder Technik zeigt sich in den Handlungen eines Aikidokas welches seine Geisteshaltung ist. Alles braucht seine Zeit, um sich natürlicherweise vollenden zu können, aber auch einem Anfänger sollte diese ganzheitliche Betrachtungsweise von Anfang an nicht verschwiegen werden.

Sind langjährige Schüler nicht selbst zu gewissen Einsichten gelangt, kann man in Gesprächen oder durch Handlungen Hinweise geben, aber den Weg gehen müssen sie schlussendlich doch selbst. Der wesentliche und bestimmende Faktor für den eigenen Fortschritt ist jede/r für sich selbst.

Oft hört man von einem Schüler, dass ihm das Aikido-Training sehr gefällt, er aber neben all den anderen Verpflichtungen und Neigungen in seinem Leben für ein größeres Engagement im Aikido keinen Platz bzw. keine Zeit hat. Manche haben auch richtiggehend Angst davor, dass ihr Leben zu stark von Aikido beeinflusst werden könnte und dass dann ihr Leben nicht mehr das Leben sei, das sie sich für sich selbst vorgestellt hatten.

Je mehr man sich auf Aikido einlässt, desto mehr erhält man auch zurück. Je tiefer man in die Welt des Aikido eindringt, desto freier fühlt man sich. Aikido ist dann nicht nur ein weiterer Teil des Lebens, den man irgendwie unterzubringen hat, sondern ein durchgehender und durchlässiger Aspekt des Lebens. In etwa so, wie es zahllose bunte Fäden sind, die in einen Stoff eingewoben wurden.